Als Nomair im September 2017 seine Ausbildung zur Fachkraft für Gastronomie beginnt, hat er noch nie Spargel gesehen und weder jemals Alkohol getrunken noch von einem Weinanbaugebiet gehört, das Saale-Unstrut heißt. Als an einem Freitag zwei Jahre später die IHK erste Prüfungsergebnisse online ins Netz stellt, steht bei Nomair in einem Teil eine glatte 6. Damit wäre er durchgefallen. Doch es kommt völlig anders: Am Ende wird der 24-Jährige Bester des gesamten Jahrgangs.
Eigentlich redet Nomair nicht so gern. In keiner der fünf Sprachen, die er spricht: seiner Muttersprache Punjabi, Urdu, der Landessprache seines Heimatlandes Pakistan, Englisch, Türkisch und inzwischen auch Deutsch. Aber wenn er lächelt, lächelt jeder mit. Als er im Dezember 2015 nach Overath kommt, spricht Nomair noch kein Wort Deutsch. Das lernt man nicht in Pakistan – trotz seiner zwölf Jahre Schule. Schnell aber findet er einen Job im Lager eines Landsmannes in Pulheim.
Thomas Block und Andrea Antelo lernen den jungen Pakistaner im Frühjahr 2016 kennen. Sie betreuen für die Individuelle Flüchtlingshilfe Overath (IFO) die Flüchtlinge in der Gemeinschaftsunterkunft in der Frielinghausener Straße. „Wir haben uns abends getroffen, haben zusammengesessen und erzählt“, sagt Andrea. Nomair ist ihr sympathisch mit seiner Zurückhaltung, aber auch weil er immer dabei ist, wenn irgendwo angepackt werden muss.
„Das war für ihn wie Kisuaheli für mich.“
Sie möchte ihn fördern, vermittelt ihm einen Job bei McDonalds in Overath. Dort erhält er nach einem Probetag sofort eine Zusage, aber da die Arbeitserlaubnis fast zwei Monate auf sich warten lässt, macht er zunächst ein unbezahltes Praktikum bei McDonalds in Deutz. Danach wechselt er zu einer Festanstellung in die Overather Filiale. Nebenher belegt er auf eigene Kosten zwei Module Deutsch bei der VHS in Köln. „Ich habe ihn hin und wieder ein bisschen genervt, dass er dranbleibt“, sagt Andrea. Nomair gibt offen zu: „Schule hat mir nie Spaß gemacht.“ Er lächelt dabei.
Daher ist es für ihn ein entscheidender Schritt, sich mit der in Deutschland üblichen dualen Ausbildung zu befassen, denn diese bedeutet eindeutig: wieder zur Schule. Andrea überzeugt ihn, das damals neue Verfahren der Ausbildungsduldung auch, und sein Chef bei McDonalds Overath ist ebenfalls begeistert. Doch die Ausbildung ist zunächst ein kleiner Schock für Nomair. „Gleiche Arbeit mit weniger Geld war das eine“, sagt Andrea. „Die Schule das andere. Blockunterricht war für ihn wie auf einem anderen Planeten. Das war für ihn wie Kisuaheli für mich.“
Vertrauen muss wachsen – Hilfe will angenommen werden.
Andrea nimmt Kontakt zur Klassenlehrerin auf, will wissen, was die Berufsschule an begleitender Unterstützung anbietet. Sie kontaktiert die Arbeitsagentur wegen ausbildungsbegleitender Hilfen. Doch richtig fündig wird sie nicht. Das erste Ausbildungsjahr ist hart, auch weil Nomair wenig Unterstützung annimmt. Er ist geknickt, unzufrieden, schlecht in der Schule. Andrea lässt ihn nicht allein. Irgendwann vor der Zwischenprüfung platzt der Knoten. Nomair beginnt, sich regelmäßig einmal die Woche mit Andrea zu treffen. Sie besorgt sich die Lehrerhefte, um nochmal nachlesen zu können. „Im Unterricht geht das oft sehr schnell und es bleibt kaum Zeit nachzufragen“, sagt sie.
Die Zwischenprüfung wird gut. Sie treffen sich weiter. Doch da Andrea Vollzeit im Steuerberatungsbüro arbeitet, geht es nur am Wochenende. Der Restaurantleiter schätzt Nomair und richtet die Schichten so ein, dass sein Azubi jeden Sonntag Zeit für das Treffen erhält.
Schwierige Begriffe und kleine Kunstwerke
Andrea, die von ihren Vorstandskolleginnen bei der IFO manchmal liebevoll „Erklärbär“ genannt wird, steigt nun richtig ein. Sie kauft Musterprüfungen von der IHK – Prüfungsaufgaben von zehn Jahrgängen Gastronomie-Fachkraft. Anfangs gehen sie sie gemeinsam durch. Andrea übersetzt und erklärt Fachbegriffe. „Ich habe oft Google zu Rate gezogen“, sagt sie und bekennt sich zu eigenen Grenzen, etwa bei der Aufgabe, „nährstoffschonende Zubereitung“ zu übersetzen und zu erläutern.
Später geht Nomair die Prüfungen allein durch und fragt nur noch, wenn er sich irgendwo nicht sicher ist. Er büffelt Wirtschaft und Soziales, Recht, Marketing, Warenkunde und Hygienevorschriften. Er lernt wie Waren geliefert werden und wie und warum man sie reklamiert. Er übt Spargel von Schwarzwurzel zu unterscheiden, die benötigte Größe von Tischdecken zu berechnen und aus Servietten kleine Kunstwerke zu falten. Kassendienst und Tischservice sind nicht so sein Ding. Wie gesagt, er redet nicht ganz so gern.
Alles über Alkohol lernen – nur nicht probieren
Alkohol nimmt einen großen Teil seiner Ausbildung ein. Eine Welt, die einem Moslem völlig fremd ist. „Für mich war klar, dass ich es nicht probieren werde, aber es war kein Problem“, sagt Nomair. „Es hat mich aber verwundert, welch großen Stellenwert das in der deutschen Gesellschaft hat.“ Also lernt er, welche Schnäpse und Weine es gibt und welcher Wein mit welchen Gerichten korrespondiert. Er lernt, den richtigen Wein zu empfehlen, ohne ihn je getrunken zu haben.
Andrea fotografiert im Supermarkt Weinetiketten und schickt sie ihm per WhatsApp zum Üben. Manchmal schickt sie auch Obst-Gemüse-Rätsel. Von Rucola und Rosenkohl, Möhre und Mandarine, von A wie Avocado bis Z wie Zucchini. Sie stellt Nomair ihre Küche zur Verfügung, lässt ihn Weinflaschen öffnen, Weizenbier eingießen und kochen. Sie kochen Kürbissuppe und Gulasch, aber auch pakistanisches Biryani. Beim gemeinsamen Essen mit Andrea und Thomas sprechen sie über Lieblingsgerichte, über ihre Heimat, Familie, über Religion. Nomair ist sunnitischer Moslem. „Es kommt nicht darauf an, welche Religion jemand hat, sondern was er für ein Mensch ist“, sagt er. Toleranz – die habe er in Deutschland gelernt.
Schreck bei Bekanntgabe der Ergebnisse
Dann kommen die Prüfung und der Tag, an dem die IHK zwei von drei Klausurergebnissen online stellt. Bei einem stehen 25 Punkte – Note 6, durchgefallen. Bei der anderen erreicht Nomair 85. Das ist eine 2, die ihm aber nicht helfen würde. Andrea ruft bei der IHK an. Es ist Freitagnachmittag, niemand mehr da. Erst Montagmorgen erreicht sie jemanden und fragt, wann man die Klausuren einsehen könne. Erst nach der praktischen Prüfung, sagt die Dame. Aber sie hat Mitgefühl. „Ich gucke mal grade“, bietet sie an. Nach 30 Sekunden kommt sie zurück mit den Worten: „Es tut mir so leid! Es sind 85 statt 25 Punkte. Das ist so schwer zu sehen!“
Beim dritten Teil erreicht Nomair 88 Punkte, bei der mündlichen und praktischen sogar 90 – damit ist er Bester des Jahrgangs. Zur Feier geht er nicht. Er möchte nicht im Mittelpunkt stehen. Andrea möchte auch nicht im Mittelpunkt stehen. Aber ohne sie wäre Nomair heute nicht dort, wo er jetzt ist. Was sie nun mit ihren freien Sonntagen anfängt, weiß sie noch nicht recht. In diesen zwei Jahren ging es um mehr als nur Gastronomie. Es ging um Flucht und Heimat, Sprache und Kultur, Lernen und Anpassen, Verstehen und Vertrauen. Unterm Strich nennt man es auch Integration. Ein vielbenutztes Wort, hinter dem sich ein ganzer Kosmos gegenseitiger Erfahrungen und Emotionen verbirgt.
Die Weichen sind gestellt.
Die lokalen Zeitungen berichten über den besten Azubi, der ein Flüchtling ist. Es ist ein wenig Überredungskunst notwendig, damit der beste Azubi sich überhaupt mit dem Journalisten trifft.
Inzwischen ist Nomair in seine erste eigene kleine Wohnung gezogen. Bei McDonalds darf er nun zum Schichtleitertraining. Als Schichtleiter hätte er mehr Verantwortung und etwas mehr Geld. Derzeit bekommt er exakt das gleiche wie ohneAusbildung: 9,79 Euro. Tariflohn. Mit internen Fortbildungen könnte er es bis zum Restaurantleiter schaffen. Mit der Ausbildung kann er auch in beliebige andere Jobs in der Gastronomie wechseln. Irgendwohin vielleicht, wo es neben der richtigen Zubereitungsart und dem passenden Wein auch auf ein ehrliches Lächeln ankommt.